Antoinette wurde unangenehm warm. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Gestresst ging sie in ihrer Garderobe auf und ab, las ihren Text noch einmal durch und versuchte sich vorzustellen, wo sie bei welchem Satz auf der Bühne stehen würde. Normalerweise half ihr das immer dabei, das Lampenfieber auf das passende Maß für einen zu senken. Doch heute wollte es schlichtweg nicht funktionieren. Egal, wie sehr sie versuchte, sich in die 70-jährige Hildegard zu versetzen, die sie in 20 Minuten vor ausverkauftem Haus mimen sollte, immer wieder fiel sie aus der Rolle. Das war ungewöhnlich für die erfahrene Bühnenschauspielerin. Galt sie doch unter Theaterfans als wandelbare Koryphäe.
Sie war schon in der Maske gewesen und hatte sich Falten zeichnen und eine graue Perücke aufsetzen lassen. Auch den bunten Putzkittel und die Schlappen trug sie schon. Ein Schweißtropfen rann an ihrer Wange herunter. Antoinette griff nach einem der Taschentücher auf ihrem Tisch und tupfte ihr Gesicht trocken. „Nur einmal tief durchatmen und ruhig bleiben. Alles wird gut!“, redete sie sich selbst gut zu. „Alles wird gut!“ Beim nächsten Blick in den Spiegel stellte sie allerdings entsetzt fest, dass von der mühevoll aufgetragenen Hildegard nur noch ein grau-beiger Fleck geblieben war. Nichts war gut. Eine Katastrophe. So kurz bevor der Vorhang zum ersten Mal aufging. Sie hatte es kommen sehen. Nach der reibungslosen Generalprobe war das restliche Ensemble guter Stimmung gewesen. Nur Antoinette nicht. Sie trat hektisch auf den Gang und machte sich so schnell es eben ging auf den Weg zurück in die Maske, um retten zu lassen, was zu retten war. Doch es herrschte schon aufgeregtes Gedränge. Tänzerinnen machten sich warm. Komparsen halfen sich gegenseitig in ihre Kostüme. Fertig geschminkte Kolleginnen kamen ihr entgegen. Hildegards Schlappen waren nicht dafür gemacht, durch enge Flure zu rennen. Beinahe verlor sie einen Schuh. Als sie gehetzt in den Gang vor der Maske einbog, lief ihr auch noch das letzte bisschen Hildegard aus dem Gesicht, so sehr schwitzte sie. Links und rechts an den Türen hingen Plakate für die heutige Aufführung: „Freitag, 13. November im Theater am Goetheplatz, >>Feministische Revolution in 3 Liebesakten<<, mit Antoinette Weissmann in der Hauptrolle, Einlass ab 18.30 Uhr, Beginn 19.30 Uhr“. Der Gong, der das Publikum aufforderte, die Plätze einzunehmen ertönte.
Die Visagistin war schon dabei ihre Sachen einzupacken, als Antoinette in den Raum gestürmt kam. „Eine Katastrophe. Können sie das retten? Ich bin in 15 Minuten dran. Schaffen wir das noch? So kann ich auf keinen Fall auf die Bühne…,“ sprudelte es nur so aus ihr heraus. „Das kriegen wir hin,“ unterbrach sie die Visagistin gelassen und rief über den Gang ins Nebenzimmer: „Ella, komm mal schnell und hilft mir. Verwischtes Makeup!“ Zu zweit werkelten die beiden jungen Frauen an Antoinette herum, redeten beruhigend auf sie ein und begleiteten sie dann noch bis ins Off. Gerade rechtzeitig. An der letzten Tür gab ihr Ella ein: „Das wird schon schief gehen!“ mit auf den Weg. „Klopf auf Holz!“, schoss es Antoinette durch den Kopf, doch als sie mit ihrer kleinen Hand drei Mal gegen die Türzarge klopfte, fiel ihr auf, dass sie aus Metall war. Doch es war keine Zeit mehr.
Mit dem ersten Ruck des Vorhangs erreichte sie den Stuhl, von dem aus sie ihre ersten Worte sprechen würde. Sie spürte die Wärme der Scheinwerfer. Die vertraute Stille des Publikums vor dem ersten Satz eines Stückes machte sich breit. Sie atmete tief ein und wollte gerade zu ihrem ersten Monolog ansetzen, als sie erstarrte. „Oh nein… Ich habe das toi toi toi vergessen,“ dachte sie laut und über die Mikrofonanlage verstärkt.
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